Dienstag, 4. Juni 2019

Gender Stories mit Vivica Genaux und Lawrence Zazzo, congenial begleitet von der Lautten Compagney unter Wolfgang Katschner

Von einem ganz anderen Blickwinkel näherte sich ein langjähriger Gast und feste Größe im Programm der Halleschen Händelfestspiele - die Lautten Compagney. Nämlich dem, ob es und wenn ja welchen, Unterschied macht, wenn eine bestimmte männliche Rolle hoher Stimmlage von einem Mann/Kastraten gesungen wurde oder einer Frau bzw. anders herum wenn ein Mann eine Frauenrolle singt oder eben eine Frau.

Zazzo, Genaux und Katschner mit der Lautten Compagney (v.l.n.r.)



Diese Fragestellung deklinieren die Musiker um Wolfgang Katschner grundlegend an 2 Gestalten der Operngeschichte: der des persischen Großkönigs Chosrau II., als Siroe v.a. durch Händels gleichnamige Oper bekannt wurde, und der der Semiramis, der legendären Königin von Assyrien, die in gleich 2 von verschiedenen Opernschaffenden der Barockzeit vertonten Opern zur tragenden Figur wurde (Semiramide riconosciuta und Semiramide abbandonata). Von verschiedenen Musikern vertont wurden aber beide Stoffe, was sich auch ganz einfach dadurch erklärt, dass die Libretti in allen drei Fällen von Pietro Metastasio stammten.
Caffarelli trägt das Teatro San Grisostomo mit sich weg
Die Kastraten Gaetano Berenstadt (rechts) und Senesino umringen die Sopranistin Francesca Cuzzoni bei einer Aufführung des  Flavio von Händel



Nun haben sich also Katschner und die an vorbereitenden Forschungen Beteiligten die verschiedenen erhaltenen Vertonungen desselben Stoffes vorgenommen und zum Einen auf markante Stücke durchgesehen. Zum Anderen erfassten sie jeweils, welche Sängerpersönlichkeiten die jeweilige Rolle bei der Erstaufführung gesungen haben.



Nachdem die Stücke ausgewählt waren, ging es daran, geeignete Sänger zu finden, einerseits eine sowohl für Frauen- wie Männerrollen geeignete oder gar in beidem schon erfahrene Frau und andererseits einen Countertenor, der auch beides singen würde. Gefunden haben sie - und das ist höchst erfreulich - zwei erstrangige Vertreter ihrer jeweiligen Zunft. Auf der einen Seite Vivica Genaux, die kanadische Mezzosopranistin, die mit ihrem Mund ein Vibrato einer Geschwindigkeit produzieren kann, in der die meisten nicht mal ihre Finger oder andere Glieder bewegen können. Und die mit eben diesem Vibrato Gänsehaut den Rücken sowie die Arme hoch und runter jagt. Auf der anderen Seite fand man Lawrence Zazzo, der zwar hauptsächlich in Männerrollen reüssierte, aber 2008 (und in Halle im Live-Konzert im Jahre 2009) zusammen mit Nuria Rial in entzückenden "Duetti amorosi" zu hören war, bei denen "man in den schönsten Momenten nicht [wusste], wo die eine Stimme endet und die andere beginnt". (Andreas Hillger MZ 8.6.2009)

Die Sopranistin Antonia Margherita Merighi (1690-1764)


Schließlich waren Musik und Musiker gefunden und nun verteilte man die Stücke nur noch so, dass Zazzo mal einen Mann, mal eine Frau zu singen hatte, und andersrum Vivica Genaux genauso mal in Hosenrolle und mal in die einer Frau tauchte.

Historisch gesehen schlüpften die beiden dann in die Person so bekannter Sänger des Barock wie Senesino (Zazzo), Caffarelli (beide), Antonia Margherita Merighi (beide Male Lawrence Zazzo) oder Vittoria Tesi (beide). Zu hören sind aber Stücke, die seinerzeit von heute weniger bekannten, zu ihrer Zeit aber weit gerühmten Kastraten wie Giuseppe Belli oder Giovanni Belardi (beide = Vivica Genaux) oder Angelo Maria Monticelli (Zazzo) interpretiert wurden.

Der von Winckelmann als "der schönste Belli" gerühmte Soprankastrat Giuseppe Belli. 


Entstanden ist ein von der ersten bis zur letzten Note fesselndes, wie bei allen Arienprogrammen üblich, in die verschiedenen Emotionen abtauchendes Repertoire bekannter Stücke wie solcher von Händel oder Vivaldi einerseits und bisher noch nie zu hören gewesener Stücke andererseits wie Arien aus Achille in Sciro von Johann Adolf Hasse, dem Siroe eines Georg Christoph Wagenseil (der bislang vor allem als Symphoniker bekannt war) oder Baldassare Galuppi oder eines, wie er zugab, auch einem sich lange Jahre aktiv mit Barockmusikern auseinandersetzendem Wolfgang Katschner völlig unbekannten Giovanni Battista Lampugnani.

Natürlich ist klar: ohne das Programm- oder das Beiheft der CD wäre man sich dieser Feinheiten nicht bewusst, aber wenn man sich mit der entsprechenden "Vorschulung" dem Genuss dieser Musik widmet, achtet man schon darauf, ob Vivica oder Lawrence bei der Interpretation einer Frau anders agieren als eines Mannes und, noch einmal mehr, ob es Unterschiede gibt, ob sie in die Rolle einer ehemals von einer Frau oder vordem von einem Mann gesungenen Person schlüpfen. Das erhöht den Reiz noch einmal mehr. Vor allem aber besticht die Musik, lernt man doch viele neue Highlights kennen, auf deren weitere Erschließung man sich freuen kann, so wie es eben die beiden Stücke aus Lampugnanis "Semiramide riconosciuta" von 1741 resp. 1762 sind.

Höhepunkte des Programms sind - neben den Arienhighlights wie "Se bramate d'amar chi vi sdegna" (jetzt endlich mit Vivica Genaux zu hören!) - aber ganz sicher die diversen Duette. Besonders nahegehend: "Gran pena è gelosia" aus Händels "Serse".

Wie immer brilliant und äußerst lebendig: die Lautten Compagney unter Katschner





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