Solche Zusammenstellungen waren im 18. Jahrhundert, in dem es noch kein verbindliches Urheberrecht gab - und natürlich auch weder Speichermedien für Musik noch Radio oder Internet - üblich, sich eine oder mehrere Partituren oder auch nur "Best of"-Hefte mit den Noten beliebter Arien aus erfolgreichen Opern zu besorgen und daraus eine neue Oper zu zaubern. Hinzu kamen die sogenannten "Koffer-Arien". So nannte man Arien, mit denen bestimmte Sänger zu einer bestimmten Zeit einen großen Publikumserfolg landeten und die diese dann immer wieder singen wollten, weil sie natürlich auch wieder beim Publikum landen wollten.
Die Praxis der Pasticci war sowohl in Italien als auch in ganz Europa üblich. Auch Händel tat dies. Für die Zeit der zweiten Akademie ist überliefert, dass er sogar für jede Oper, die er ablieferte, egal ob sie neu von ihm erschaffen wurde oder "nur" ein Pasticcio war, dieselbe Summe bekam. Insofern mag es eine Erleichterung der Arbeit gewesen zu sein, wenn man die Arien nicht neu komponieren musste.
In der Händelforschung blieben die Pasticcios lange unbeachtet - und somit natürlich erst recht in der Aufführungspraxis, denn eine solche setzt ja voraus, dass man die entsprechenden Noten hatte.
Opera Settecento, ein in London ansässiges Ensemble hat sich unter dem zweiten Leiter, dem agilen jungen Leo Duarte, seit 2015 darauf spezialisiert, selten bis noch nie gehörte Opern auszugraben. Nach Vivaldis "Griselda" und einer Oper "Demetrio" des sächsischen Hofkomponisten Johann Adolf Hasse präsentierte Opera Settecento 2017 das erste Händel-Pasticcio "L'Elpidia ovvero li rivali generosi" auch bei den Händelfestspielen in Halle, und seitdem kamen sie jedes Jahr mit einem neuen wieder nach Halle, nachdem das Stück kurz zuvor in London beim dortigen Handel Festival zu hören war. Die Pasticcio-Aufführungen mit dem Ensemble sind eines der Beispiele für die Kooperation der Halleschen mit den Londoner Festspielen, die auch dank des Engagements und der Offenheit der Hallenser Intendantur entstanden ist.
Nun also präsentierten Leo Duarte und Opera Settecento ihr drittes Händel-Pasticcio: Venceslao. Die Geschichte ist wie immer um einseitige und zweiseitige Liebe, gegebene und gebrochene Versprechen, Eifersucht und Rache gestrickt, allerdings mal ohne Intrigen und Fälschungen, wenn man von der Verkleidung einer Frau als Mann absieht.
König Venceslao oder Wenzel II hat als König von Polen zwei Söhne: den schüchternen Alessandro und sein ganzes Gegenteil Casimiro. Alessandro liebt heimlich eine am Krakauer Hofe residierende Prinzessin aus altem polnischen Adel mit Namen Erenice. Venceslao andererseits ist schon rumgekommen und hat unter anderem der Thronfolgerin auf den litauischen Königsthron Lucinda schon seine Liebe versprochen.
Nun verguckt er sich aber ebenfalls in die Angebetete seines Bruders Erenice. Alessandro traut sich nicht, weiter vorzugehen und bittet seinen Freund, einen General des Königs mit Namen Ernando, um den Gefallen, sich selbst als Liebhaber Erenices zu outen und diese vom König zu erbitten als Lohn für einen unlängst errungenen Sieg. Schließlich tritt auch noch Lucinda in die Handlung ein, freilich unter dem Deckmantel Abgeordneter des littauischen Hofes zu sein. Sie verkleidet sich deshalb als Mann und tritt als Lucindo auf. Freilich: ihr Angetrauter Casimiro erkennt sie trotz der Verkleidung, allein stellt er sich unwissend, beschuldigt sie/ihn zunächst der Fälschung (also er könnte keinesfalls littauischer Botschafter sein) und als Lucindo das Schreiben präsentiert, mit dem Casimiro ihr seine Hand versprochen hatte, verwirft er auch dieses als Fälschung, woraufhin Lucindo/a ihn zum Duell fordert, verliert und sich dann aber als Frau offenbart, woraufhin er ihr erneut vorwirft, jetzt auch noch wegen seines Geschlechts zu lügen, um dem verdienten Tod im Duell zu entgehen.
Vom Vater zurückgehalten, geht Casimiro wütend ab und erwischt dann einen Mann bei seiner Angebeteten. Denkend, es sei der vom Stand unter ihm stehende General, tötet er ihn. Erst dann erkennt er, dass es sein Bruder Alessandro war, dem Ernando empfohlen hatte, doch einfach vollendete Tatsachen zu schaffen und dann seine Liebe beim König einzufordern.
Nun soll Casimiro sterben und ein kleines Hin und Her beginnt, erst wollen die Damen unbedingt, dass dies geschehe, dann wieder nicht, der König gibt aber sein Wort, das der Brudermörder sterbe. Dann will Lucinda ihn dennoch heiraten, was ihr auch wieder zugestanden wird, doch mitten in die Hochzeitsfeier hinein macht König Venceslao klar, dass Casimiro wie versprochen heute noch sterben werde. Lucinda wiegelt drum das Volk auf, für die Freilassung des Prinzen, ihres Gatten, zu kämpfen. Am Ende übergibt Venceslao seinen Thron an Casimiro und alle sind natürlich wieder glücklich. Casimiro heiratet seine Lucinda und Ernando bekommt Prinzessin Erenice.
Da "Venceslao" schon das dritte Pasticcio ist, das Opera Settecento präsentiert, hat man Vergleichsmöglichkeiten, und da muss man einfach sagen, dass Händel bei den anderen beiden ein glücklicheres Händchen hatte. "Venceslao" braucht lange, bis er das erste Achtungszeichen setzt, nämlich bis zur dritten Szene. Die erste Arie ist relativ belanglos. Richtig in Schwung kommt die Oper erst mit der Arie der Erenice "Io sento al cor dardi l'amor". Da sind dann immerhin schon 35 Minuten vorbei. Danach kommen solche Highlights aber regelmäßig. Die den ersten Akt abschließende Arie Casimiros "D'ira armato il braccio forte" ist dann schon wieder eine einem Aktabschluss würdige Arie voller Effekte und Affekte.
Der zweite Vergleich erlaubt sich in Bezug auf die Sänger, auch hier bleibt die diesjährige Produktion etwas hinter den durch die vorigen zwei Pasticcios aufgebauten Erwartungen zurück. Das einzige Stammmitglied des Ensembles, der wunderbare Bass Christopher Jacklin hat leider keine Arien abbekommen, sondern nur rezitative Beiträge (und das in 2 unterschiedlichen Rollen!).
Der Primo Uomo der Oper ist nicht der Titelheld, sondern sein Sohn Casimiro, zu Händels Zeiten von Senesino dargestellt. Der in diesem Jahr aufgefahrene polnische Countertenor Michal Czerniawski kann hier nicht wirklich überzeugen. Bei der Primadonna, Prinzessin Erenice, ist das schon anders. Die Sopranistin Galina Averina musste sich zwar erst ein bisschen einsingen, aber ab Szene 8 im 1. Akt war sie die tragende und auch überzeugende Säule der Produktion. Sehr gut liegt auch der Tenor Nick Pritchard im Ohr, der den Titelhelden sang. Die Altistin Olivia Warburton, die den General Ernando singt, ist für einen solchen viel zu schwach auf der Brust und trotz Minimalbesetzung im Orchester zuweilen gar nicht auszumachen. Auch die Lucinda singende Mezzo Helen Charlston kann zwar in puncto Darstellung Akzente setzen, ihr Gesang indes überzeugt nicht.
Schade eigentlich, dass Leo Duarte in diesem Jahr, was das Sängerensemble anging, nicht das goldene Händchen von vorigem und von vor zwei Jahren hatte. Der Counter vor allem ist kein Vergleich zu denen, die er uns schon zu Gehör brachte. Rupert Entnickap in L'Elpidia zum Beispiel.
So bleibt ein gemischter Eindruck. Zum Einen - und das möchte ich noch mal klar sagen - ein absolutes Chapeau für dieses wunderbare Engagement für Händels verlorene Musik. Von 7 gedruckten "Favorite Songs" und einem Libretto einmal abgesehen, musste alles andere erstmal rekonstruiert und mussten daraus die Aufführungsmaterialien erstellt werden. Und das Ganze für zwei Aufführungen: eine in London und eine in Halle. Wahnsinn! Um so größer mein Danke, dass man die sonst nie zu hörende Musik überhaupt mal hören konnte. Ebenso ein Dank an und Lob für das Orchester. Mit gerade mal 5 ersten und zweiten Violinen, das meiste andere in Einzelbesetzung, wenn man von den Oboen und den Hörnern (mit je 2) einmal absieht, ist man geradezu in Minimalbesetzung angereist, und was das an Klanggewalt aufbaute ist schon erstaunlich. Zudem ist das Dirigat Duartes ein Kunstwerk in sich selbst. Auf der anderen Seite geht man aus der Vorstellung auch ein bisschen unzufrieden, da die Besetzung der Stimmen / Rollen diesmal nur suboptimal zu bezeichnen ist. Dennoch: ich freue mich schon auf nächstes Jahr und ein neues Pasticcio aus dem Hause Opera Settecento.
Kurze Audienz beim äußerst sympatischen kreativen Kopf Leo Duarte |