Montag, 17. Juni 2019

Raritäten 2: Ein Wiederhören mit Opera Settecento - Venceslao (Händel-Pasticcio)

Es ist inzwischen schon eine richtige Tradition der Händelfestspiele, die diese bitte auch beibehalten, selten bis noch nie gehörte Musik Händels bzw. Musik, die mit Händel zu tun, hat zu präsentieren. Ein Beispiel für solche Musik sind die Pasticci oder bunte Törtchen genannten Zusammenstellungen von Arien anderer Komponisten bei gleichzeitiger Unterlegung neuer Handlung und somit neuer Texte. Natürlich unter Beibehaltung der ursprünglichen Affektsituation sowie Silbenzahl, damit das auch alles passt.

Solche Zusammenstellungen waren im 18. Jahrhundert, in dem es noch kein verbindliches Urheberrecht gab - und natürlich auch weder Speichermedien für Musik noch Radio oder Internet - üblich, sich eine oder mehrere Partituren oder auch nur "Best of"-Hefte mit den Noten beliebter Arien aus erfolgreichen Opern zu besorgen und daraus eine neue Oper zu zaubern. Hinzu kamen die sogenannten "Koffer-Arien". So nannte man Arien, mit denen bestimmte Sänger zu einer bestimmten Zeit einen großen Publikumserfolg landeten und die diese dann immer wieder singen wollten, weil sie natürlich auch wieder beim Publikum landen wollten.

Die Praxis der Pasticci war sowohl in Italien als auch in ganz Europa üblich. Auch Händel tat dies. Für die Zeit der zweiten Akademie ist überliefert, dass er sogar für jede Oper, die er ablieferte, egal ob sie neu von ihm erschaffen wurde oder "nur" ein Pasticcio war, dieselbe Summe bekam. Insofern mag es eine Erleichterung der Arbeit gewesen zu sein, wenn man die Arien nicht neu komponieren musste.

In der Händelforschung blieben die Pasticcios lange unbeachtet - und somit natürlich erst recht in der Aufführungspraxis, denn eine solche setzt ja voraus, dass man die entsprechenden Noten hatte.

Opera Settecento, ein in London ansässiges Ensemble hat sich unter dem zweiten Leiter, dem agilen jungen Leo Duarte, seit 2015 darauf spezialisiert, selten bis noch nie gehörte Opern auszugraben. Nach Vivaldis "Griselda" und einer Oper "Demetrio" des sächsischen Hofkomponisten Johann Adolf Hasse präsentierte Opera Settecento 2017 das erste Händel-Pasticcio "L'Elpidia ovvero li rivali generosi" auch bei den Händelfestspielen in Halle, und seitdem kamen sie jedes Jahr mit einem neuen wieder nach Halle, nachdem das Stück kurz zuvor in London beim dortigen Handel Festival zu hören war. Die Pasticcio-Aufführungen mit dem Ensemble sind eines der Beispiele für die Kooperation der Halleschen mit den Londoner Festspielen, die auch dank des Engagements und der Offenheit der Hallenser Intendantur entstanden ist.

Nun also präsentierten Leo Duarte und Opera Settecento ihr drittes Händel-Pasticcio: Venceslao. Die Geschichte ist wie immer um einseitige und zweiseitige Liebe, gegebene und gebrochene Versprechen, Eifersucht und Rache gestrickt, allerdings mal ohne Intrigen und Fälschungen, wenn man von der Verkleidung einer Frau als Mann absieht.

König Venceslao oder Wenzel II hat als König von Polen zwei Söhne: den schüchternen Alessandro und sein ganzes Gegenteil Casimiro. Alessandro liebt heimlich eine am Krakauer Hofe residierende Prinzessin aus altem polnischen Adel mit Namen Erenice. Venceslao andererseits ist schon rumgekommen und hat unter anderem der Thronfolgerin auf den litauischen Königsthron Lucinda schon seine Liebe versprochen. 

Nun verguckt er sich aber ebenfalls in die Angebetete seines Bruders Erenice. Alessandro traut sich nicht, weiter vorzugehen und bittet seinen Freund, einen General des Königs mit Namen Ernando, um den Gefallen, sich selbst als Liebhaber Erenices zu outen und diese vom König zu erbitten als Lohn für einen unlängst errungenen Sieg. Schließlich tritt auch noch Lucinda in die Handlung ein, freilich unter dem Deckmantel Abgeordneter des littauischen Hofes zu sein. Sie verkleidet sich deshalb als Mann und tritt als Lucindo auf. Freilich: ihr Angetrauter Casimiro erkennt sie trotz der Verkleidung, allein stellt er sich unwissend, beschuldigt sie/ihn zunächst der Fälschung (also er könnte keinesfalls littauischer Botschafter sein) und als Lucindo das Schreiben präsentiert, mit dem Casimiro ihr seine Hand versprochen hatte, verwirft er auch dieses als Fälschung, woraufhin Lucindo/a ihn zum Duell fordert, verliert und sich dann aber als Frau offenbart, woraufhin er ihr erneut vorwirft, jetzt auch noch wegen seines Geschlechts zu lügen, um dem verdienten Tod im Duell zu entgehen.

Vom Vater zurückgehalten, geht Casimiro wütend ab und erwischt dann einen Mann bei seiner Angebeteten. Denkend, es sei der vom Stand unter ihm stehende General, tötet er ihn. Erst dann erkennt er, dass es sein Bruder Alessandro war, dem Ernando empfohlen hatte, doch einfach vollendete Tatsachen zu schaffen und dann seine Liebe beim König einzufordern.

Nun soll Casimiro sterben und ein kleines Hin und Her beginnt, erst wollen die Damen unbedingt, dass dies geschehe, dann wieder nicht, der König gibt aber sein Wort, das der Brudermörder sterbe. Dann will Lucinda ihn dennoch heiraten, was ihr auch wieder zugestanden wird, doch mitten in die Hochzeitsfeier hinein macht König Venceslao klar, dass Casimiro wie versprochen heute noch sterben werde. Lucinda wiegelt drum das Volk auf, für die Freilassung des Prinzen, ihres Gatten, zu kämpfen. Am Ende übergibt Venceslao seinen Thron an Casimiro und alle sind natürlich wieder glücklich. Casimiro heiratet seine Lucinda und Ernando bekommt Prinzessin Erenice.

Da "Venceslao" schon das dritte Pasticcio ist, das Opera Settecento präsentiert, hat man Vergleichsmöglichkeiten, und da muss man einfach sagen, dass Händel bei den anderen beiden ein glücklicheres Händchen hatte. "Venceslao" braucht lange, bis er das erste Achtungszeichen setzt, nämlich bis zur dritten Szene. Die erste Arie ist relativ belanglos. Richtig in Schwung kommt die Oper erst mit der Arie der Erenice "Io sento al cor dardi l'amor". Da sind dann immerhin schon 35 Minuten vorbei. Danach kommen solche Highlights aber regelmäßig. Die den ersten Akt abschließende Arie Casimiros "D'ira armato il braccio forte" ist dann schon wieder eine einem Aktabschluss würdige Arie voller Effekte und Affekte. 

Der zweite Vergleich erlaubt sich in Bezug auf die Sänger, auch hier bleibt die diesjährige Produktion etwas hinter den durch die vorigen zwei Pasticcios aufgebauten Erwartungen zurück. Das einzige Stammmitglied des Ensembles, der wunderbare Bass Christopher Jacklin hat leider keine Arien abbekommen, sondern nur rezitative Beiträge (und das in 2 unterschiedlichen Rollen!).

Der Primo Uomo der Oper ist nicht der Titelheld, sondern sein Sohn Casimiro, zu Händels Zeiten von Senesino dargestellt. Der in diesem Jahr aufgefahrene polnische Countertenor Michal Czerniawski kann hier nicht wirklich überzeugen. Bei der Primadonna, Prinzessin Erenice, ist das schon anders. Die Sopranistin Galina Averina musste sich zwar erst ein bisschen einsingen, aber ab Szene 8 im 1. Akt war sie die tragende und auch überzeugende Säule der Produktion. Sehr gut liegt auch der Tenor Nick Pritchard im Ohr, der den Titelhelden sang. Die Altistin Olivia Warburton, die den General Ernando singt, ist für einen solchen viel zu schwach auf der Brust und trotz Minimalbesetzung im Orchester zuweilen gar nicht auszumachen. Auch die Lucinda singende Mezzo Helen Charlston kann zwar in puncto Darstellung Akzente setzen, ihr Gesang indes überzeugt nicht. 
Zufrieden sind wir dennoch: der Rezensent und eine Freundin.



Schade eigentlich, dass Leo Duarte in diesem Jahr, was das Sängerensemble anging, nicht das goldene Händchen von vorigem und von vor zwei Jahren hatte. Der Counter vor allem ist kein Vergleich zu denen, die er uns schon zu Gehör brachte. Rupert Entnickap in L'Elpidia zum Beispiel.

Kurze Audienz beim äußerst sympatischen
kreativen Kopf Leo Duarte
So bleibt ein gemischter Eindruck. Zum Einen - und das möchte ich noch mal klar sagen - ein absolutes Chapeau für dieses wunderbare Engagement für Händels verlorene Musik. Von 7 gedruckten "Favorite Songs" und einem Libretto einmal abgesehen, musste alles andere erstmal rekonstruiert und mussten daraus die Aufführungsmaterialien erstellt werden. Und das Ganze für zwei Aufführungen: eine in London und eine in Halle. Wahnsinn! Um so größer mein Danke, dass man die sonst nie zu hörende Musik überhaupt mal hören konnte. Ebenso ein Dank an und Lob für das Orchester. Mit gerade mal 5 ersten und zweiten Violinen, das meiste andere in Einzelbesetzung, wenn man von den Oboen und den Hörnern (mit je 2) einmal absieht, ist man geradezu in Minimalbesetzung angereist, und was das an Klanggewalt aufbaute ist schon erstaunlich. Zudem ist das Dirigat Duartes ein Kunstwerk in sich selbst. Auf der anderen Seite geht man aus der Vorstellung auch ein bisschen unzufrieden, da die Besetzung der Stimmen / Rollen diesmal nur suboptimal zu bezeichnen ist. Dennoch: ich freue mich schon auf nächstes Jahr und ein neues Pasticcio aus dem Hause Opera Settecento.



Eine zauberhafte, echt barocke Zauberinnen-Oper zeigt eine erst starke, dann an ihrer ersten wahren Liebe zerbrechende Frau

Fast zum Abschluss der Händelfestspiele 2019 - denn eine weitere Rarität sollte am letzten Tag der Festspiele erst noch kommen - präsentierte Wolfgang Katschner, Stammgast seit vielen Jahren und Händelpreis-Träger, mit seiner lautten compagney im Orchestergraben eine der gewaltigsten Opern Händels in einer wunderbaren Aufführung. Für selbige zeichnete Niels Badenhop verantwortlich. Einige böse Zungen könnten behaupten, er sei ein Hans Dampf in allen Gassen, doch in den Bereichen, die der Rezensent schon mehrfach kennengelernt hat, leistet Badenhop einfach großartig. Natürlich: man muss historisch genaue Inszenierungen inklusive mit Gestik des 18. Jahrhundert mögen. Aber wenn man das tut, kommt man bei der diesjährigen Alcina voll auf seine Kosten. Nicht nur die Kostüme sind vom Feinsten - und groß in ihrer Anzahl, sodass sich insbesondere auch das Aussehen der Frauen ständig ändert, sondern auch die Szenerie.

Passend zum historischen Goethe-Theater in Bad Lauchstädt mit seiner historischen Bühne mit Guckkasten-Optik entwarf Badenhop just eine solche, um unterschiedliche Szenerien zu gestalten, von der Anlandestelle des Schiffes der vermeintlich havarierten Bradamante über den anheimelnden barocken Garten der Herrscherin der Insel oder einen der offiziellen Räume im Palast von Königin und Zauberin Alcina bis hin zu ihrem stimmig düsteren, in das Feuer-Rot der Hölle getauchten Schwarze-Künste-Gemach, in dem die dann schon halb machtlose Zauberin ihre finsteren Mächte und Kreaturen anruft, erfährt der Zuschauer zahlreiche Szenerien-Wandel wie seinerzeit im barocken Theater mit eingeschobenen und ausgefahrenen bzw. heruntergeklappten Kulissen (Seitenwände, oberer Abschluss und Abschluss-Font ganz hinten) und weiß sofort, wo er sich gerade befindet.

Die Künstler tragen historisch informierte Kostüme wie aus Barockzeiten, die zudem noch farblich aufeinander abgestimmt sind. So tragen die RepräsentantInnen des Regimes der Zauberinnen-Insel (nicht immer, aber zumeist) Schwarz mit zudem figurspezifischen farblichen Einlassungen. Bei Morgana und ihrem Liebhaber Oronte ist das z.B. durchgängig so. Ihre Farbe ist ein sattes Grün und so kommt auch ihr Liebhaber, der zugleich der Heerführer von Alcinas Armee ist, eben dieses Grün. Trägt Alcina auch Schwarz, was sie nicht immer tut, da sie als Hauptfigur und Herrscherin unterschiedlich farbene Kostüme trägt, so ist ihre Signalfarbe darin eben das satte Feuerrot wie in dem oben schon beschriebenen Schwarze-Künste-Gemach mit passend feuerndem Kamin. Die echten oder vermeintlichen Herren (Bradamante, die Liebhaberin des Haupthelden Ruggiero, hat sich ja in einen Mann verkleidet) tragen die typischen ab der Taille ausfahrenden Kostüme, zumindest wenn sie in "Gala" sind, mit Schwert dazu.

Neben dem Bühnenbild und den gerade angedeuteten Kostümen samt Requisiten zeichnete Badenhop auch für die Regie und Choreografie verantwortlich, worunter nicht nur die historisch überlieferten Bewegungen der Sänger und Sängerinnen auf der Bühne gemeint sind, sondern auch die der Tänzer. Denn auch hier rekonstruiert die Aufführung die historisch korrekte Situation der Bühne des Theaters im Covent Garden, in das Händel ausweichen musste, als die rivalisierende Adelsoper (Opera of the Nobility) ihn aus seinem angestammten King's Theatre vertrieben hatte. Dort war schon das Ensemble der Pina Bausch des barocken London zuhause: das Ballett der Maria Sallé. Und Händel wäre eben nicht Händel gewesen, wäre er nicht kreativ damit umgegangen, indem er diese mit in seine Inszenierungen integriert hätte, und so gibt es in den Jahren seines erzwungenen "Exils" am Covent Garden Theatre immer wieder Tanzensemble. Auch diese, die manchmal weggekürzt werden, wurden belassen und für sie wurden von Badenhop Choregrafien für das von ihm mitbegründete Ensemble für Historische Tänze Ballet Baroque Berlin.

Das Sängerensemble ist durchweg gut bis sehr gut. Zu letzeren zählen ganz sicher die geborene Münchenerin Hanna Herfurther in der Rolle der Morgana, der Tenor Andreas Post und der spanische Bass-Bariton Elias Benito-Arranz, der den Lehrer des Titelhelden (und Begleiter seiner Geliebten Bradamante) Melisso sang. Einen satten, wohlig im Ohr liegenden Alt bietet schon seit Jahren Julia Böhme, die in Berlin und Dresden studierte und seitdem neben Dresden auch immer wieder in Halle zu erleben war. In diesem Jahr hat sie - ebenfalls mit Katschners Lautten Compagney - ihre erste Solo-CD "Seconda Donna" herausgebracht. Als Bradamante war sie rührend, ihre Darstellung und Verkleidung als Mann sehr überzeugend und es gab eigentlich nur bei der Wutarie der Bradamante "Vorrei vendicarmi" (hier von Kristina Hammarström) am Beginn des 2. Aktes einige Probleme, den nötigen langen Atem zu haben. Das sollte man nicht überbewerten. Julia Böhme zählt auf jeden Fall zu den hörenswertesten Altistinnen, die es derzeit gibt.

Eine solide Leistung bot auch die griechische Sopranistin Myrsini Margariti in der Rolle der Alcina. Für Intensiv-Festivalbesucher kommt sie zwar nicht an die Klasse von Karina Gauvin, die in ihrem Madness-Programm am zweiten Wochenende ebenfalls Alcinas Verzweiflungsarie "Ah mio cor, schernito sei" (hier von einer meisterhaften Patricia Petibon), als sie einsehen muss, dass dadurch, dass sie sich wirklich verliebt hat, ihre Kräfte schwinden, zum Besten gegeben hat. Aber Gauvin ist wirklich Weltklasse. Margariti vielleicht auf dem Weg dahin. Figürlich und von ihrer Darstellung freilich ist sie eine echte Alcina, betörend und majestätisch zugleich.

Auch die Männerrollen waren erstklassig besetzt. Die Aufführung bot ein Wiedersehen und -hören mit dem schon im Rahmen der Produktion des "Pastor fido" am ersten Wochenende der Händelfestspiele gelobten Nicholas Tamagna, einer echten Neuentdeckung für mich in diesem Festivalsommer. Als Ruggiero und in historischem Kostüm bot er ein ganz anderes Erscheinungsbild als als raumgreifender und auf das Publikum zugehender Jäger Silvio. Seine Melodieführung auch hier wieder sicher bis aufs i-Tüpfelchen - und mit bezaubernden Verzierungen und Abänderungen im a'-Teil der Arien.

Das muss überhaupt noch einmal betont und gewürdigt werden: was Katschner mit seinen Sängern im a'-Teil der Arien macht - oder sie machen lässt - und wie lange er seine Solisten ohne Orchesterbegleitung ihre figurativen Umspielungen darbieten lässt, das ist schon ganz einmalig auch im spezialisierten Alte-Musik-Markt. Wenn wir vielleicht von Erika Pluhar und ihren L'Arpeggiata-Projekten absieht. Ganz große Klasse.

Auf die beiden Männerstimmen - den Bassbariton Elias Benito-Arranz und Tenor Andreas Post wurde oben schon hingewiesen.

Eine uneingeschränkte Empfehlung!

Dienstag, 11. Juni 2019

Valer Sabadus und AKAMUS in Hochform beim Händelfestival in Halle: ein beeindruckendes Sängerportrait

Anders als andere war Sabadus schon immer sehr flexibel und umtriebig, hat sich nicht frühzeitig auf einen Komponisten oder eine Zeit festgelegt, sondern im Gegenteil in unterschiedlichsten Epochen, Genres und unterschiedlichsten Interpretationsarten (von klassisch bis modern bis extravagant bzw. cross over) Erfahrungen gesammelt.

Allein seine beiden sehr frühen Einspielungen mit dem Pera Ensemble über das Aufeinandertreffen türkisch-orientalischer und barocker europäischer Musik sind ein Ohrenschmaus. Seit seinem Farinelli-Programm im letzten Jahr inkl. der dazu herausgebrachten CD "Caro Gemello" hat sich der Ausnahme-Countertenor nun einem traditionellen Genre vieler Solokünstler gewidmet, das schon mehrfach, auch von Rezensenten, an ihn herangetragen wurde: nämlich den Sängerportrait. Nicht seinem eigenen, sondern einem Sänger vergangener Zeiten. Im Falle des Erstlings eine Reminiszenz an den größten und bekanntesten Kastraten seiner Zeit: Farinelli, eigentlich Carlo Broschi (1705-1782). Zwar war dies nicht ganz ein Portrait der Gesangsrollen dieses Künstlers, sondern eher ein Denkmal an sein Gesamtschaffen und seiner Verbundenheit und Freundschaft mit Metastasio, dem großen Librettisten der Zeit, aber natürlich waren auch Arien für Rollen, die Farinelli selbst gesungen hat, dabei.

Diesen Weg geht Sabadus weiter und stellt in seinem neuen Programm Arien, die zwei zu unterschiedlichen Zeiten großen Kastraten der Barockoper in die Kehlen geschrieben wurden, gegenüber oder zusammen: Arien für den auch bei Händel singenden Giovanni Carestini (1700-1760) und Arien für einen lange Jahre am Hofe und der Hofoper Friedrich des Großen in Berlin alle anderen ausstechenden Felice Salimbeni (*um 1712-1751) 

Felice Salimbeni, die Nachtigall am Hofe Friedrich des Großen, König von Preußen
Dass auch Carestini eine Berliner Phase hatte, wenngleich erst NACH dem Tod Salimbenis, ist weniger bekannt. Mit Carestini verbindet man vor allem seine Londoner Zeit u.a. bei und unter Händel, mit dem weniger bekannten Salimbeni eher Berlin und seiner Zeit als "Muse" Friedrich des Großen und seines "künstlerischen Beraters" Graf Francesco Algarottis („Algarottis Muse“ steht denn auch in griechischer Sprache unter dem Profilbild, das der Berliner Kupferstecher Georg Friedrich Schmidt 1751 von Salimbeni anfertigte). 

Adolph von Menzel: König Friedrichs II. Tafelrunde in Sanssouci (1850): Beobachtet von Friedrich II. in der Mitte, führt Voltaire (zweiter Stuhl links des Königs) ein Gespräch mit dem gegenübersitzenden Algarotti.

Mit Carestini, der freilich 1750 schon im fortgeschrittenen Alter und von seinem hellen Sopran in einen satten Alt gefallen war, konnte Friedrich dann schon weniger anfangen. Dennoch haben beide das gemacht, was von Johann-Adam Hiller in seinen "Lebensbeschreibungen berühmter Musikgelehrten und Tonkünstler neuerer Zeit" (Teil 1. Leipzig: Dyk 1784, S. 232-240) zumindest für Salimbeni überliefert ist: den Zuhörern "Thränen ausgepreßt" oder anders gesagt: tiefe Empfindungen ausgelöst. Und selbiges können Coutertenöre, wenn sie gut sind, noch um einiges besser als hohe Frauenstimmen! Und eine wie die von Valer Sabadus kann es in ganz hervorragender Weise - und tat es auch am 7.6. in der Halleschen Konzerthalle Ulrichkirche. Das passte denn auch perfekt zum Motto der diesjährigen Händelfestspiele "Empfindsam, heroisch, erhaben" (auch wenn dieses primär auf "Händels Frauen" abzielte. Einen großen Anteil am rundum gelungenen Abend, der schließlich mit stehenden Ovationen und zwei die Menge weiter "aufpeitschenden" Zugaben zu Ende ging, hatte die Berliner Akademie für Alte Musik (AKAMUS), die, von einem in Halle sehr gut bekannten Bernhard Forck geleitet, lebendig-forsch aufspielte.

Zu hören waren denn auch diverse Arien von Friedrichs Haus-und-Hof-Kapellmeister Carl Heinrich Graun (1704–1759), so aus „Alessandro e Poro“ (Berlin 1744) sowie „Misero pargoletto“ aus der Oper „Demofoonte“ (Berlin 1746). Mit letzterer hatte schon Cecilia Bartoli auf ihrem Album "Sacrificium" begeistert. Für die Carestini-Seite des "Doppelportraits" waren „Con l’ali di costanza” und „Scherza infida” (hier beide in der Interpretation durch Philippe Jaroussky) als Arien des Titelhelden der Oper „Ariodante” zu hören. (Volles Programm hier.) 

Sabadus legte wieder einmal auf die so schon makellosen, nahegenden Interpretationen durch gestandene KollegInnen von ihm noch zwei Schippen drauf bzw. setzte nahegehende i-Tüpfelchen. Danke, Valer. Und übertraf sich noch mal ganz am Ende mit seinen beiden Zugaben:

1) die inzwischen zu einer Art Kofferarie gewordene Arie des Serse aus der gleichnamigen Oper von Händel "Crude furie" - Hier seit neuestem ein Mitschnitt eines Liebhabers aus St. Petersburg (hoffen wir, dass er da bleibt!)

2) eine auch wiederum leicht bessere Version der Referenzarie von Valers jungem polnischen Kollegen Jakub Orlinski - "Vedro con mio diletto" (aus "Giustino", 1724). - in diesem Ausschnitt ab 10:02 aus Valers Petersburger Konzert vom März 2019

Ein Mitschnitt des Konzerts aus dem Münchener Prinzregententheater wird von BR Klassik am 25.06.2019 um 20:05 Uhr gesendet. Ein zweiter Mitschnitt desselben Konzerts, der vom SWR im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele angefertigt wurde, wird am 18. Juli 2019 um 13:05 Uhr auf SWR 2 ausgestrahlt.



Händelfestspiele Halle 2018- Wiederaufnahme 2019

BERENICE, REGINA D‘EGITTO HWV 38

Oper von G. F. Händel

Berenice - Ks. Romelia Lichtenstein
Alessandro - Samuel Mariño
Demetrio - Filippo Mineccia
Selene - Svitlana Slyvia
Arsace - Franziska Gottwald
Fabio - Robert Sellier
Aristobolo - Ki-Hyun Park
Statisterie der Oper Halle
Händelfestspielorchester Halle
Musikalische Leitung: Jörg Halubek

Regie: Jochen Biganzoli
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Katharina Weissenborn
Video: Konrad Kästner
Beleuchtung: Peter Erlenkötter
Dramaturgie: Kornelius Paede

Produktion der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle zu den Händelfestspielen Halle 2018

Mit der Wiederaufnahme der Festivaloper „Berenice“ zeigte die Oper Halle noch einmal, was sie an Genuss hervorbringen kann. Und was man definitiv sagen muss: die Sänger und Sängerinnen der diesjährigen Produktion wuchsen noch einmal über das im letzten Jahr schon Geleistete hinaus. Das gilt durch die Bank weg für alle Beteiligten, aber insbesondere auch für die beiden Countertenöre Filippo Mineccia und Samuel Mariño, besonders letzterer hat sowohl was die Fülle als auch die Varianz seiner Stimme angeht, noch einiges an Verbesserung erreicht, wobei seine Stimme noch eine große Karriere vor sich haben wird. Mariños Sopran ist wieder eine dieser rar gesäten hohen Stimmen aus männlicher Kehle bzw. männlichem Kopf, die das Faszinosum der Kastraten des 18. Jahrhunderts nachvollziehbar, nachhörbar machen lassen. Das von einer hohen Frauenstimme differente Klangbild stößt noch einmal ganz andere Resonanzräume im Inneren an als eben jene Frauenstimmen und sorgen dafür, dass man noch ein Stück ergriffener, involvierter, durchdrungener und richtiggehend bewegt und emotionalisiert wird von der exakt auch darauf angelegten barocken Opernmusik. Die einzelnen Gefühlsäußerungen werden in guten und mehr noch in sehr guten Counter-Stimmen noch einmal ganz anders erleb- und empfindbar.

Vor diesem Hintergrund ist der Oper Halle zu gratulieren für den Entschluss, den jungen Mann aus Venezuela, der in Paris studiert hat, für gleich zwei größere Projekte zu engagieren:

1) Gipfeltreffen (der Barockmusik): Händel und Gluck
mit dem Händelfestspielorchester Halle unter Leitung von Michael Hofstetter
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL Care selve und M’allontano sdegnose
pupille aus Atalanta HWV 35, Quella fiamma aus Arminio HWV 36
CHRISTOPH WILLIBALD GLUCK Berenice, que fai aus Antigono,
Tornate sereni aus La Sofonisba und Care pupille aus Il Tigrane sowie
Instrumentalwerke von HÄNDEL und GLUCK

31. Oktober 2019 | Volkspark Halle

2) für die Händerl-Opernproduktion des nächsten Jahres - den Teseo

https://buehnen-halle.de/teseo

Nun zur Produktion selbst, die dieses Jahr, wie gesagt, wiederaufgenommen wird. Mit Berenice im letzten Jahr vollendete sich ein schon lange zielstrebig verfolgtes Projekt: mit ihr als letztem fehlendem Glied wurden dann erstmals alle 42 regulären Händel-Opern (ohne Pasticcios) in seiner Geburtsstadt zum Erklingen gebracht und aufgeführt. Ich denke, allein dazu kann man das Opernhaus Halle schon mal beglückwünschen, ist das doch eine Leistung.
Und die „Berenice“ lassen sich die Hallenser richtig was kosten, kaufen gleich 2 klasse Countertenöre und eine auf Hosenrollen spezialisierte Mezzosopranistin (Franziska Gottwald) sogar für eine Nebenrolle ein. Und sie lassen es krachen wie lange nicht mehr. Die 3 Stunden vergehen wie im Fluge und man ist bildhaft bewegt.

Wieder einmal transponiert das Hallesche Opernhaus eine Barockoper in die Moderne und hält der modernen Gesellschaft mit ihrem Handy-, Twitter-, Facebook- und Selfies-Wahn sowie altbekannten und heute dank Trump auch in die Politik Einzug gehalten habenden Drohungen an andere Staaten über Tweets den Spiegel vor. Und sie schickt nicht nur die Facebook- und Twitter-Newsfeeds in rasantem Tempo über die Leinwände scrollen, sondern auch die Akteure immer wieder durch die gesamte Kulisse hintereinander her rennen.

Es ist also sehr viel Bewegung im Spiel. Ist es auch Stress? Nun ja, für manchen vielleicht. Der Rezensent, der nicht mal einen Facebook-Account hat und diese Datenkrake rundherum ablehnt und noch nie getwittert hat, noch Twitternachrichten verfolgt, fühlt sich von diesem Input nicht genervt, ist er für ihn doch nur ein realistisches Abbild der Gegenwart. Unklar bleibt einzig, ob die Facebook-et-al-Manie nur einfach als Element der Realität übernommen wird oder ob es auch eine Botschaft gibt in der Richtung, dass man diesen Mediengebrauch und das ständige Sichselbstknipsen lassen sollte. Ich möchte mal hoffen, letzteres.

Unterstützt wird diese These durch den Glitzervorhang, der das ganze Theater rund um Facebook und Twitter zu einem solchen (Theater-)Spektakel werden lässt. Insbesondere auch in den Passagen, in denen sich nach und nach jeder einzelne der DarstellerInnen vor der auf der Bühne stehenden HD-Kamera mit Grimassen und aufgeblähtem Gestus präsentiert wird klar, was dieses ganze Facebooktheater eigentlich soll: eine große, aber keineswegs unbedingt großartige Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, die nicht sein muss.

Der Glitzervorhang und einige mal glänzende, mal historisch anmutende, aber optisch sehr ansprechende Kostüme, die authentische Farbe auf die Bühne bringen, geben der Theatervorstellung auch den nötigen Glanz und Glitter, bieten eine Wohltat fürs Auge, noch dazu schön farblich abgeschmeckt.

Natürlich bringt die Inszenierung aber auch sehr ernste Aspekte der heutigen Welt auf die Bühne: Berenice (alias die historisch überlieferte ägyptische Königin Kleopatra Berenike III.) wird von einem anderen Staat – im Libretto vom Alten Rom, das historisch gesehen auf die Getreidelieferungen aus Ägypten scharf, wenn nicht gar angewiesen war – bzw. seinen entsprechenden Statthaltern per Twitterpost erpresst, entweder den Rom genehmen Alessandro zu ehelichen oder aber man werde ihr „Ländchen“ mit Krieg überziehen. Auch der NSA-Skandal wird aufgegriffen: ein verräterisches Schreiben, in dem sich ein Gegner Roms, aber ebenfalls an Ägypten interessierter Staatsführer (der König von Pontus) anerbietet, dem zweiten, von ihm begünstigten Kandidaten um die Gunst und Hand Berenikes – Demetrio – zu helfen, taucht hier als E-Mail auf und wird wie der Brief im Libretto von Berenike-Getreuen abgefangen.

Händel hatte seine „Berenice“ für die Saison 1736/37 am königlichen Theater Covent Garden geschrieben. Sie wurde allgemein nicht als Händels beste Oper wahrgenommen, aber seit der mustergültigen Einspielung durch das Complesso Barocco mit einem erstklassigem Cast bei Virgin 2010 wissen wir, was für schöne Nummern Berenice enthält. Dass „Berenice“ unverdient so abgewertet wurde, hatte auch der Händelforscher Winton Dean schon erkannt, der schreibt:

„Die Schwächen der Berenice sind dramatischer, nicht musikalischer Art. Es gibt kein wahrnehmbares Nachlassen [von Händels] Erfindungsreichtum: Fast jeder Arie, selbst auf Nebenschauplätzen, hat subtile musikalische Wendungen oder feine strukturelle Details. Bei Burney, der die Dramatik und Charakterisierung [im Allgemeinen] nicht so interessant fand, rangiert [Berenice] weit oben und er widmete ihr [in seiner Allgemeinen Musikgeschichte, 1789] mehrere Seiten zur Beschreibung der Partitur.“ (Winton Dean: Handel’s Operas, 1726–1741. Boydell & Brewer, London 2006, Reprint: The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-268-3, S. 383; deutsche Übersetzung übernommen vom deutschen Wikipedia-Eintrag)

In Halle werden die beiden männlichen Bewerber um Berenices Gunst von zwei erstklassigen Countertenören gesungen. Der Eine – Filippo Mineccia, Demetrio verkörpernd – ist in Halle schon mehrfach aufgetreten und ausgiebig verdient beklatscht worden, zuletzt als Titelfigur des Lucio Silla in Händels gleichnamiger Oper (Produktion der Oper Halle für die Händelfestspiele 2016, Wiederaufnahme 2017). Lucio Silla übrigens wäre sogar der historisch gesehen hinter den römischen Interessen stehenden Statthalter und Imperator Roms zu Zeiten der Berenice, insofern gibt es sogar einen historischen Bezug zwischen den beiden Besetzungen. Der Andere ist eine der Entdeckungen des diesjährigen Händelfestivals. Den von den Römern begünstigten Alessandro verkörpert der aus Venezuela stammende und dort ausgebildete Countertenor Samuel Mariño, der mit einem glasklaren, reinen, völlig unangestrengten und zudem völlig natürlichen Sopran mühelos in Höhen vordringt, bei denen andere Counter und auch Sopranistinnen anfangen (müssen) zu pressen. Der Rezensent würde mal die These wagen, dass auch Mariño noch ganz groß rauskommen wird – und somit die Halleschen Festspiele wieder mal, wie z. B. 2009 bei der Premiere des mit Puppen auf der Bühne grandios inszenierten „Rinaldos“ der Lautten Compagney den noch studierenden Valer Barna-Sabadus, der bei den Händelfestspielen 2019 wieder in Leipzig auftreten wird, einen Künstler präsentieren und entdecken mit ganz großem Potential.

Die Titelheldin wird verkörpert von der Lokalmatadorin Kammersängerin Romelia Lichtenstein, die in dieser Rolle nicht nur aufgeht, sondern absolut in ihrer Komfortzone singt und somit an ihre Höchstleistungen von vor einigen Jahren würdig anschließt.
Wie schon oben angedeutet, verdient auch ein anderes Detail besondere Erwähnung: Franziska Gottwald, in ganz Europa gefeierte Mezzosopranistin und vielerorts die männlichen Hauptrollen verkörpernd wurde für die in der Oper kleine Nebenrolle des Arsace für die Hallesche Produktion gewonnen und gibt dieser Rolle eine wahrscheinlich nie beabsichtigte Präsenz, auch wenn sie – zeitweise – im wenig hermachenden Kostüm einer Putze, wenn nicht Klofrau daherkommt.

Also: Glückwunsch an die Bühnen Halle für diese überzeugende und rundum zufriedenstellende Produktion

Die diesjährige Festivaloper "Berenice" auf der Homepage der Oper Halle:

Dirk Carius


Das Ensemblebild (ganz links die beiden Countertenöre Filippo Mineccia und Samuel Mariño, ganz rechts Berenikes Schwester Selene und Berenice alias Svitlana Slyvia und Romelia Lichtenstein) gibt einen guten Eindruck vom Revuecharakter und dem Unterhaltungsgrad der diesjährigen Festivaloper.


Demetrio (Filippo Mineccia) kann sich nicht ganz entscheiden, ob er lieber Berenice oder ihre Schwester heiraten solle. Er richtet die Fahne nach dem Wind, will abwarten, welche von beiden von Rom als Königin akzeptiert wird.


Die Entdeckung des Abends und einer der Neuentdeckungen der diesjährigen Händelfestspiele - Counter Samuel Mariño als Alessandro



So posen sie zu unterschiedlichen Zeiten alle vor der Kamera auf der Bühne und das Bild erscheint gleichzeitig groß auf der Leinwand: hier Halles Robert Sellier und Romelia Lichtenstein

Bilder: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle

Dienstag, 4. Juni 2019

Gender Stories mit Vivica Genaux und Lawrence Zazzo, congenial begleitet von der Lautten Compagney unter Wolfgang Katschner

Von einem ganz anderen Blickwinkel näherte sich ein langjähriger Gast und feste Größe im Programm der Halleschen Händelfestspiele - die Lautten Compagney. Nämlich dem, ob es und wenn ja welchen, Unterschied macht, wenn eine bestimmte männliche Rolle hoher Stimmlage von einem Mann/Kastraten gesungen wurde oder einer Frau bzw. anders herum wenn ein Mann eine Frauenrolle singt oder eben eine Frau.

Zazzo, Genaux und Katschner mit der Lautten Compagney (v.l.n.r.)



Diese Fragestellung deklinieren die Musiker um Wolfgang Katschner grundlegend an 2 Gestalten der Operngeschichte: der des persischen Großkönigs Chosrau II., als Siroe v.a. durch Händels gleichnamige Oper bekannt wurde, und der der Semiramis, der legendären Königin von Assyrien, die in gleich 2 von verschiedenen Opernschaffenden der Barockzeit vertonten Opern zur tragenden Figur wurde (Semiramide riconosciuta und Semiramide abbandonata). Von verschiedenen Musikern vertont wurden aber beide Stoffe, was sich auch ganz einfach dadurch erklärt, dass die Libretti in allen drei Fällen von Pietro Metastasio stammten.
Caffarelli trägt das Teatro San Grisostomo mit sich weg
Die Kastraten Gaetano Berenstadt (rechts) und Senesino umringen die Sopranistin Francesca Cuzzoni bei einer Aufführung des  Flavio von Händel



Nun haben sich also Katschner und die an vorbereitenden Forschungen Beteiligten die verschiedenen erhaltenen Vertonungen desselben Stoffes vorgenommen und zum Einen auf markante Stücke durchgesehen. Zum Anderen erfassten sie jeweils, welche Sängerpersönlichkeiten die jeweilige Rolle bei der Erstaufführung gesungen haben.



Nachdem die Stücke ausgewählt waren, ging es daran, geeignete Sänger zu finden, einerseits eine sowohl für Frauen- wie Männerrollen geeignete oder gar in beidem schon erfahrene Frau und andererseits einen Countertenor, der auch beides singen würde. Gefunden haben sie - und das ist höchst erfreulich - zwei erstrangige Vertreter ihrer jeweiligen Zunft. Auf der einen Seite Vivica Genaux, die kanadische Mezzosopranistin, die mit ihrem Mund ein Vibrato einer Geschwindigkeit produzieren kann, in der die meisten nicht mal ihre Finger oder andere Glieder bewegen können. Und die mit eben diesem Vibrato Gänsehaut den Rücken sowie die Arme hoch und runter jagt. Auf der anderen Seite fand man Lawrence Zazzo, der zwar hauptsächlich in Männerrollen reüssierte, aber 2008 (und in Halle im Live-Konzert im Jahre 2009) zusammen mit Nuria Rial in entzückenden "Duetti amorosi" zu hören war, bei denen "man in den schönsten Momenten nicht [wusste], wo die eine Stimme endet und die andere beginnt". (Andreas Hillger MZ 8.6.2009)

Die Sopranistin Antonia Margherita Merighi (1690-1764)


Schließlich waren Musik und Musiker gefunden und nun verteilte man die Stücke nur noch so, dass Zazzo mal einen Mann, mal eine Frau zu singen hatte, und andersrum Vivica Genaux genauso mal in Hosenrolle und mal in die einer Frau tauchte.

Historisch gesehen schlüpften die beiden dann in die Person so bekannter Sänger des Barock wie Senesino (Zazzo), Caffarelli (beide), Antonia Margherita Merighi (beide Male Lawrence Zazzo) oder Vittoria Tesi (beide). Zu hören sind aber Stücke, die seinerzeit von heute weniger bekannten, zu ihrer Zeit aber weit gerühmten Kastraten wie Giuseppe Belli oder Giovanni Belardi (beide = Vivica Genaux) oder Angelo Maria Monticelli (Zazzo) interpretiert wurden.

Der von Winckelmann als "der schönste Belli" gerühmte Soprankastrat Giuseppe Belli. 


Entstanden ist ein von der ersten bis zur letzten Note fesselndes, wie bei allen Arienprogrammen üblich, in die verschiedenen Emotionen abtauchendes Repertoire bekannter Stücke wie solcher von Händel oder Vivaldi einerseits und bisher noch nie zu hören gewesener Stücke andererseits wie Arien aus Achille in Sciro von Johann Adolf Hasse, dem Siroe eines Georg Christoph Wagenseil (der bislang vor allem als Symphoniker bekannt war) oder Baldassare Galuppi oder eines, wie er zugab, auch einem sich lange Jahre aktiv mit Barockmusikern auseinandersetzendem Wolfgang Katschner völlig unbekannten Giovanni Battista Lampugnani.

Natürlich ist klar: ohne das Programm- oder das Beiheft der CD wäre man sich dieser Feinheiten nicht bewusst, aber wenn man sich mit der entsprechenden "Vorschulung" dem Genuss dieser Musik widmet, achtet man schon darauf, ob Vivica oder Lawrence bei der Interpretation einer Frau anders agieren als eines Mannes und, noch einmal mehr, ob es Unterschiede gibt, ob sie in die Rolle einer ehemals von einer Frau oder vordem von einem Mann gesungenen Person schlüpfen. Das erhöht den Reiz noch einmal mehr. Vor allem aber besticht die Musik, lernt man doch viele neue Highlights kennen, auf deren weitere Erschließung man sich freuen kann, so wie es eben die beiden Stücke aus Lampugnanis "Semiramide riconosciuta" von 1741 resp. 1762 sind.

Höhepunkte des Programms sind - neben den Arienhighlights wie "Se bramate d'amar chi vi sdegna" (jetzt endlich mit Vivica Genaux zu hören!) - aber ganz sicher die diversen Duette. Besonders nahegehend: "Gran pena è gelosia" aus Händels "Serse".

Wie immer brilliant und äußerst lebendig: die Lautten Compagney unter Katschner





Montag, 3. Juni 2019

Il Pastor Fido - eine Neuentdeckung, ein Orchester mit einzigartigem Klang!

Das oh! Orkiestra historyczna ist bislang in Deutschland kaum bekannt, auch wenn dessen Konzertmeisterin Martyna Pastuszka (sprich: Pastuschka) keine Unbekannte mehr ist, wenn man darauf achtet, wer denn bei einzelnen Spitzenorchestern als Konzertmeisterin agiert.
In dieser Eigenschaft hat sie auch 2012 in Katowice diverse junge Musiker um sich geschart und ein Orchester gegründet, das sich in Schlesien inzwischen einen guten Namen und eine eigene Konzertreihe erarbeitet hat. Eine schon über mehrere Jahre sich erstreckende Zusammenarbeit verbindet das Orchester mit Jan Čižmář (sprich: Tschischmarsch), der an der Musikhochschule von Brno/Brünn u.a. Laute und Barockgitarre lehrt und auch selbst spielt - und der in Brno und Umgebung ebenso eine Reihe von Konzerten unter dem Titel "Hudební lahůdky", also "Musikalische Leckereien" unterhält. Erstmals 2013 entschlossen sich die Künstler in einer gemeinsamen Anstrengung, einen musikalischen Leckerbissen der besonderen Art auszugraben und erstaufzuführen: "Didone abbandonata" von Domenico Sarri (1679–1744). Diese Oper eines nur eingefleischten Barockfans bekannten Komponisten, dessen Nachname zuweilen auch Sarro geschrieben wird, war eine der Produktionen, die der tschechisch-böhmische Franz Anton Reichsgraf von Sporck von den von ihm unterhaltenen Musikern neben Prag auch in Brünn aufführen ließ - und die drum zum 300-jährigen Jubiläum der Erstaufführung wiederausgegraben wurde.

oh, oh, oh, das Orkiestra historyczna. Vorn rechts Konzertmeisterin Martyna Pastuszka, drei Reihen hinter ihr Jan Čižmář und in der vorletzten Reihe in der Mitte mit Brille der Mann für die nichtmusikalischen Dinge, die ein Orchester auch zu regeln hat - Artur Malke

2016 gab es einen weiteren Leckerbissen - diesmal eines schon etwas bekannteren Komponisten, nämlich des in Dresden als Hofkomponisten tätigen Johann Adolf Hasse, der lange Jahre auch in Italien weilte und wirkte und dort viele Opern aufführen ließ. Das diesmal ausgegrabene Stück hatte einen Bezug zu Warschau, denn es war eine derjenigen Opern, die der sächsische Kurfürst, der ja zugleich König von Polen war, auch am Hof in Warschau hatte aufführen lassen. Es handelte sich um die 1745 erstmals und 1753 wiederaufgeführte Zweitvertonung des "Arminio" von Hasse. Diese echte Rarität wurde zwar in mehreren Orten in Polen und Tschechien aufgeführt, fand aber leider nicht den Weg auf Platte oder zumindest Online-Mitschnitt.


Figurine des Bartolommeo Puttini als Varo in der Dresdner Aufführung des "Arminio" von 1753

Figurine der Teresa Albuzzi-Todeschini als Tusnelda  in der Dresdner Aufführung des "Arminio" von 1753

Erstmals in einem internationaleren Licht erschien das oh! Orkiestra historyczna im September letzten Jahres im Theater an der Wien in der konzertanten Aufführung der von Max Emmanuel Cencic wiederausgegrabenen Oper "Gismondo Re di Polonia" von Leonardo Vinci. Diese Oper wird am 14.06.2019 in der Moskauer Philharmonie / Tschaikowski-Konzertsaal wiederaufgeführt und wird dann dort in Gänze zu erleben sein.

Der treue Hirte Mirtillo (Philipp Mathmann) drückt die ihm vermeintlich helfen wollende
Eurilla (Rinnat Moriah) voll Dankbarkeit an sich.
Ich denke, es ist zu erkennen, dass die Kostüme die arkadische Geschichte sehr gut nachempfinden,
die Szenerie das Ganze aber in die Moderne rückt, das zeigt sich auch dann,
wenn die Sänger kurzzeitig ihre Oberkleidung ablegen und sich mit dem
- sehr nett anzuschauenden Balletttänzer -
der die Leiden eines unglücklich verliebten Mannes sehr gut in Tanz-Figurinen setzt.
Foto: Magdalena Halas

Im Ergebnis dieser ersten Zusammenarbeit mit Cencic und seinem Label bzw. seiner Künstleragentur "Parnassus Arts" wurde dieses neue Projekt geboren. eine vollszenische Aufführung des "Il Pastor Fido". Handelte es sich bei den oben beschriebenen Produktionen noch um eher hausbackene Produktionen mit polnisch-tschechischem Cast, so ist diesmal das gesamte Team internationalisiert, womit die gesamte Produktion natürlich noch einmal gewinnt. Der sicher größte Zugewinn ist, dass die ursprünglich von Kastraten gesungenen Rollen heute von guten bis sehr guten Countertenören gesungen werden können, wovon wir in dieser Produktion gleich zwei haben.

Hier die eigentlich von Mirtillo begehrte und ihn auch selbst liebende Nymphe Amarilli (Sophie Junker),
zu ihrem Namen passend im gelben Kostüm. Man sieht ihr die Leiden an, die es ihr bereitet, ihre Gefühle nicht zulassen zu dürfen und sich doch nach Mirtillo zu sehnen, gar in Eifersucht zu entbrennen und zu verzweifeln, als sie erfährt, dass er vermeintlich eine Andere hat.
Foto: Magdalena Halas 


In der Hauptrolle des treuen, sich am Ende für seine Geliebte opfern wollenden Hirten Mirtillo ist der aus Lippstadt stammende, nunmehr in Berlin lebende Countertenor Philipp Mathmann zu erleben. Ist der schon beeindruckend sicher in seiner Melodiefühung und hat eine voll klingende Stimme, so ist der Countertenor Nicholas Tamagna, der den zweiten Mann, den Jäger Silvio, darstellt, der eigentlich nur für die Jagd und die Huldigung der Göttin der Jagd lebt, nicht aber, um weiblichen Reizen überhaupt zugänglich zu sein, geschweige denn zu erliegen, ein Bühnenerlebnis, dem - so scheint es - Lebensfreude aus allen Poren atmet. Oder ist er nur ein sehr guter Schauspieler? Ich glaube nein, ich habe ihn auch vor der Vorstellung erlebt. Eine Rolle wie die des Jägers Silvio ist ein Glücksfall, indem seine Persönlichkeit und die Anforderungen der Rolle gut zusammentreffen. Darstellen kann er aber auch einen Herrscher wie Echnaton, wie die Ausschnitte aus der Inszenierung des "Akhenaten" von Philipp Grass auf der Homepage des Künstlers verdeutlichen.

Hier der zweite Countertenor Nicholas Tamagna als Jäger Silvio, der nur die Jagd im Kopf hat. Eine Wahnsinns-Bühnenpräsenz und zugleich versprüht der Mann Lebensfreude und Schalk. Ein Gesamtkunstwerk.
Foto: Magdalena Halas


Die diesjährigen Händelfestspiele in Halle legen aber den Fokus auf die Frauen - und was Händel für Frauengestalten geschaffen haben - sowie über Geschlechter-Identitäten.

In "Il pastor fido" ist wie so oft bei Händel auch wieder der titelgebende Held nicht wirklich der Held, wobei er es im Sinne des Librettos vielleicht doch ist, will er sich doch anstelle der für die Opferung vorgesehenen, von ihm geliebten Nymphe Amarilli selbst opfern. Musikalisch ist eben jene Amarilli schon deutlich stärker. Auch sie liebt eigentlich Mirtillo, kann ihm das aber nicht zeigen, nicht nur, aber auch weil sie mit Silvio verheiratet ist.

Hier die Silvio becircen wollende und am Ende rumkriegende Schäferin Dorinda (Anna Starushkevych), neben ihr der oben schon angesprochene Tänzer Davidson Janconello, der die Leiden eines unglücklich verliebten Mannes während der gesamten Vorstellung in Szene und in tänzerische Figurinen setzt.
Foto: Magdalena Halas


Dann haben wir da die Intrigantin Eurilla, eigentlich die beste Freundin der Amarilli, aber vielmehr selbst hinter Mirtillo her. So will sie denn, scheinbar die beste Freundin und ganz besorgt, den Stachel des Verdachts nähren und erzählt Amarilli, dass sie eine andere Frau bei ihm gesehen habe. Andererseits verspricht sie Mirtillo, der ganz außer sich ist, dass "seine" Amarilli ihn so kalt abgewiesen bzw stehen gelassen hatte, ihm zu helfen und die beiden zusammenzubringen. Allerdings mit einem klaren Hintergedanken: nämlich vor Zeugen, sodass Amarilli der "unrechtmäßigen" Liebe, später würde man sagen als gefallene Frau, nicht nur überführt, sondern gebrandmarkt und dann dem Zeus geopfert werde, auf dass dann der Weg zum Herzen des Schäfers für sie, Eurilla, frei wäre.

Janconello noch einmal - hier mit Amarilli ohne ihr Kostüm, sozusagen in die Moderne transponiert, als seine Freundin, die er begehrt, die aber erstmal nicht reagiert auf seine Kontaktaufnahmen und dann plötzlich, während des Schlafs auftaucht und ihn quasi nur zur sexuellen Abreaktion benutzt. Der Arme.
Foto: Magdalena Halas


Ich denke, das allein schon kann man sich gut vorstellen in der Darstellung, und ich kann bestätigen: die beiden Sopranistinnen Sophie Junker als Amarilli und Rinnat Moriah als intrigante Eurilla diesen Typus Frau ganz hervorragend verkörpern. (Ursprünglich waren die beiden Damen genau andersrum besetzt angekündigt, aber es hat sich wohl bei der Produktion gezeigt, dass Eine oder Beide sich in der anderen Rolle viel wohler fühlten? Hinzu gesellt sich die ukrainische Mezzosopranistin Anna Starushkevych in der Rolle der Schäferin Dorinda, die auf Silvio abfährt und in ihm Gelüste wecken will, die er überhaupt nicht zu kennen scheint. Aber sie, ganz Frau, lässt ungerührt ihren Scharm spielen, geht ihn offensiv an, versteckt sich als keusches Reh im Busch und weckt am Ende ganz richtig die Jagdlust, auf SIE, die Schäferin.

Der mit seiner Stimme den Saal durchdringende Bass Zachary Wilson als Tirenio, Hohepriester der Diana, der das Stück beginnt mit der Feststellung, dass er sich nicht erinnern könne, ähnliches Leid schon mal erlebt zu haben, und der es beendet, indem er verkündet, dass dadurch, dass ein treuer Mann (Mirtillo) sich für eine eigentlich gefallene Frau (Amarilli) opfern will, der Bann gebrochen sei und Arkadien keine Jungfrauen mehr opfern müsse.
Foto: Magdalena Halas


Ist das Stück gesanglich schon eine Attraktion, da alle Stücke stark und überzeugend besetzt sind, kommt hier aus dem manchmal wenig beachteten Orchestergraben die eigentliche Attraktion. Man hat den Eindruck eines ganz "akademischen" Orchesters im positiven Sinne: den Eindruck nämlich, dass man bei jedem einzelnen Ton weiß, was man tut und warum man es so tut und nicht anders. Und dies zeigt sich sowohl in den Tutti-Passagen als auch und mehr noch in den Solo-Parts, und solistisch begleitete Arien (zumindest in Teilen solistisch begleitete) gibt es in "Il Pastor fido". Man kann und möchte Parnassus Arts und den Herren Cencic und Georg Lang sowohl gratulieren als auch danken, dass sie dieses Orchester gefunden und für gut befunden haben, sodass es vielleicht von nun an öfter in Deutschland zu hören sein wird.


Die Wucht aus dem Orchestergraben das Orkiestra historyzna oder einfach nur {oh!} - aus Schlesien. Meinen Glückwunsch und mein Dank für diese gelungene Produktion. (Alle Fotos sind entstanden bei der ersten Aufführung dieser Produktion im Städtischen Theater in Gliwice / Gleiwitz in Schlesien. In Bad Lauchstädt musste sich das Orchester schon auf kleinerem Platze drängen und musste das Zugehen auf das Publikum entfallen, da im Goethe-Theater einfach nicht so viel Platz ist.
Foto: Magdalena Halas

Sonntag, 2. Juni 2019

Händelfestspiele Halle 2019 starten mit "Julius Cäsar"

Am Freitag 31. Mai war es wieder so weit: die Halleschen Händelfestspiele starteten traditionell mit der vom Halleschen Opernhaus beigesteuerten Festival-Oper. Nachdem es die Bühnen Halle - weltweit wohl einmalig - vollendet hatten, alle Opern aus der Feder Händels einmal szenisch auf die Bühne gebracht haben, startete in diesem Jahr nun ein neuer Zyklus.

Zur Popularitätsskala seiner Opern passend, suchte sich das Opernhaus Halle für den Start des neuen Zyklus Händels "Giulio Cesare in Egitto" aus und lud zur Inszenierung desselben einen der bekanntesten, zugleich umstrittensten deutschen Vertreter des Regietheaters. Konwitschny kehrte damit nach Halle und zu den Händelfestspielen zurück, war er doch Ende der 1980er Jahre, damals gerade beginnender, Regisseur am Halleschen Theater.

Julius Cäsar (im schwarzen Anzug) und seine Truppen (im Blaumann)
in Ägypten, angedeutet durch 2 Pyramiden und ein paar Palmen.

Ein Markenzeichen Konwitschnys ist auch, dass er, wie seinerzeit auch Harry Kupfer, auf Deutsch als gesungener Sprache auch für alle seine Opern besteht. Nur ganz selten kann er sich mit dieser Forderung nicht durchsetzen. Dieser Eingriff in die Musik ist schon an sich ein schwerer, sind die Arien doch eindeutig für den deutlich schnelleren italienischen Duktus verfasst. Doch damit nicht genug: auch in einer anderen, entscheidenden Richtung war Konwitschnys Konzept historisch und eher an das Damals auch noch der 1980er angelehnt, als man noch meinte, dem Publikum keine Frauenstimme als Helden bzw. Mann "anbieten" zu dürfen. So wurden denn aus den beiden großen männlichen Widersachern Julius Cäsar und Ptomomäus Baritone. Das ist, gelinde gesagt, gewöhnungsbedürftig in heutiger Zeit, da man die Originaltonlagen im Ohr hat. Richtig schlimm indes wird es, wenn man dann nicht mal mit Baritonen auffährt, die in der barocken Gesangestechnik Erfahrungen haben, also die anspruchsvollen Koloraturen auch mit Leben füllen können. Das konnten indes beide nicht. Hinzu kamen deutlich hörbare Schwächen in der Höhe. Beide Kritikpunkte treffen leider auch auf die Frauen zu, die zuweilen deutliche Schwierigkeiten hatten. So war der Abend leider musikalisch alles andere als ein Genuss und als eine würdige Feier der vor kurzem mit dem Theaterpreis des Bundes ausgezeichneten und damit nahegelegten Kompetenz.
Ptolomäus (rechts) und sein Ratgeber Achilla mit einer Schlange,
mit der sie Cäsar vergiften wollen.

Die Inszenierung indes war recht ansprechend. Man könnte jetzt sagen, 2 angedeutete Pyramiden und 3-4 Palmen sind ein bisschen wenig, um ein feierliches Ambiente zu schaffen. Das war auch in der Pause immer wieder zu hören. Allerdings spielt die Oper - wenig verwunderlich - nicht wirklich im antiken Ägypten, sondern allenfalls in seiner modernen Entsprechung, es könnte aber auch jedes andere Land sein. Man kommt jedoch auch immer wieder auf den Gedanken, dass es vielleicht doch die alte Zeit sein könnte, zum Beispiel wenn Vorkoster ins Spiel kommen und dann - auch noch mitten in einer von Cäsar gesungenen Prachtarie "Va tacito e nascosto" - an vergifeten Speisen (will doch Ptomomäus' Ratgeber Achilla Cäsar vergiften, um vom Herrscher Ägyptens als Lohn die Witwe der ermordeten Pompejus, Cornelia, bekommen) stirbt.
Sextus, der Sohn des Pompejus als Knabe und unter ihm der - SEINE (also Sextus') Arien
singende - abgeschlagene Kopf seines Vaters. 

Einen besonderen Einfall gilt es am Ende noch zu betonen: aus der Rolle des Sextus, des nunmehr waisen jungen Sohnes des Pompejus, macht die Hallesche Inszenierung in der Tat einen Knaben, der dann nur darstellerisch und sprechend aktiv wird, während die ihm zugewiesenen Arien der am Anfang der Oper Cäsar überreichte abgeschlagene Kopf des Pompejus singt. So wendet sich denn also Pompejus an seinen Sohn und impft ihm ein, den Mord an seinem Vater zu rächen. Das hat durchaus was. Und die Stimmlage der Partie des Sextus bleibt auch hoch. Wurde die Rolle des Knaben bei der Premiere 1724 von der Sopranistin Margherita Durastanti gesungen, war es in Halle der einzige Countertenor der Produktion: Jake Arditti, aber auch der gehört leider nicht zu den besten.

Bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass die ab nächstem Jahr folgenden Produktionen des zweiten Halleschen Opernzyklus wieder besser werden und an die Erfolge wie z.B. der letztjährigen Berenice anknüpfen.

Cornelia und ihr Sohn Sextus vor dem Grabstein des ermordeten Pompejus.