Dienstag, 11. Juni 2019

Händelfestspiele Halle 2018- Wiederaufnahme 2019

BERENICE, REGINA D‘EGITTO HWV 38

Oper von G. F. Händel

Berenice - Ks. Romelia Lichtenstein
Alessandro - Samuel Mariño
Demetrio - Filippo Mineccia
Selene - Svitlana Slyvia
Arsace - Franziska Gottwald
Fabio - Robert Sellier
Aristobolo - Ki-Hyun Park
Statisterie der Oper Halle
Händelfestspielorchester Halle
Musikalische Leitung: Jörg Halubek

Regie: Jochen Biganzoli
Bühne: Wolf Gutjahr
Kostüme: Katharina Weissenborn
Video: Konrad Kästner
Beleuchtung: Peter Erlenkötter
Dramaturgie: Kornelius Paede

Produktion der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle zu den Händelfestspielen Halle 2018

Mit der Wiederaufnahme der Festivaloper „Berenice“ zeigte die Oper Halle noch einmal, was sie an Genuss hervorbringen kann. Und was man definitiv sagen muss: die Sänger und Sängerinnen der diesjährigen Produktion wuchsen noch einmal über das im letzten Jahr schon Geleistete hinaus. Das gilt durch die Bank weg für alle Beteiligten, aber insbesondere auch für die beiden Countertenöre Filippo Mineccia und Samuel Mariño, besonders letzterer hat sowohl was die Fülle als auch die Varianz seiner Stimme angeht, noch einiges an Verbesserung erreicht, wobei seine Stimme noch eine große Karriere vor sich haben wird. Mariños Sopran ist wieder eine dieser rar gesäten hohen Stimmen aus männlicher Kehle bzw. männlichem Kopf, die das Faszinosum der Kastraten des 18. Jahrhunderts nachvollziehbar, nachhörbar machen lassen. Das von einer hohen Frauenstimme differente Klangbild stößt noch einmal ganz andere Resonanzräume im Inneren an als eben jene Frauenstimmen und sorgen dafür, dass man noch ein Stück ergriffener, involvierter, durchdrungener und richtiggehend bewegt und emotionalisiert wird von der exakt auch darauf angelegten barocken Opernmusik. Die einzelnen Gefühlsäußerungen werden in guten und mehr noch in sehr guten Counter-Stimmen noch einmal ganz anders erleb- und empfindbar.

Vor diesem Hintergrund ist der Oper Halle zu gratulieren für den Entschluss, den jungen Mann aus Venezuela, der in Paris studiert hat, für gleich zwei größere Projekte zu engagieren:

1) Gipfeltreffen (der Barockmusik): Händel und Gluck
mit dem Händelfestspielorchester Halle unter Leitung von Michael Hofstetter
GEORG FRIEDRICH HÄNDEL Care selve und M’allontano sdegnose
pupille aus Atalanta HWV 35, Quella fiamma aus Arminio HWV 36
CHRISTOPH WILLIBALD GLUCK Berenice, que fai aus Antigono,
Tornate sereni aus La Sofonisba und Care pupille aus Il Tigrane sowie
Instrumentalwerke von HÄNDEL und GLUCK

31. Oktober 2019 | Volkspark Halle

2) für die Händerl-Opernproduktion des nächsten Jahres - den Teseo

https://buehnen-halle.de/teseo

Nun zur Produktion selbst, die dieses Jahr, wie gesagt, wiederaufgenommen wird. Mit Berenice im letzten Jahr vollendete sich ein schon lange zielstrebig verfolgtes Projekt: mit ihr als letztem fehlendem Glied wurden dann erstmals alle 42 regulären Händel-Opern (ohne Pasticcios) in seiner Geburtsstadt zum Erklingen gebracht und aufgeführt. Ich denke, allein dazu kann man das Opernhaus Halle schon mal beglückwünschen, ist das doch eine Leistung.
Und die „Berenice“ lassen sich die Hallenser richtig was kosten, kaufen gleich 2 klasse Countertenöre und eine auf Hosenrollen spezialisierte Mezzosopranistin (Franziska Gottwald) sogar für eine Nebenrolle ein. Und sie lassen es krachen wie lange nicht mehr. Die 3 Stunden vergehen wie im Fluge und man ist bildhaft bewegt.

Wieder einmal transponiert das Hallesche Opernhaus eine Barockoper in die Moderne und hält der modernen Gesellschaft mit ihrem Handy-, Twitter-, Facebook- und Selfies-Wahn sowie altbekannten und heute dank Trump auch in die Politik Einzug gehalten habenden Drohungen an andere Staaten über Tweets den Spiegel vor. Und sie schickt nicht nur die Facebook- und Twitter-Newsfeeds in rasantem Tempo über die Leinwände scrollen, sondern auch die Akteure immer wieder durch die gesamte Kulisse hintereinander her rennen.

Es ist also sehr viel Bewegung im Spiel. Ist es auch Stress? Nun ja, für manchen vielleicht. Der Rezensent, der nicht mal einen Facebook-Account hat und diese Datenkrake rundherum ablehnt und noch nie getwittert hat, noch Twitternachrichten verfolgt, fühlt sich von diesem Input nicht genervt, ist er für ihn doch nur ein realistisches Abbild der Gegenwart. Unklar bleibt einzig, ob die Facebook-et-al-Manie nur einfach als Element der Realität übernommen wird oder ob es auch eine Botschaft gibt in der Richtung, dass man diesen Mediengebrauch und das ständige Sichselbstknipsen lassen sollte. Ich möchte mal hoffen, letzteres.

Unterstützt wird diese These durch den Glitzervorhang, der das ganze Theater rund um Facebook und Twitter zu einem solchen (Theater-)Spektakel werden lässt. Insbesondere auch in den Passagen, in denen sich nach und nach jeder einzelne der DarstellerInnen vor der auf der Bühne stehenden HD-Kamera mit Grimassen und aufgeblähtem Gestus präsentiert wird klar, was dieses ganze Facebooktheater eigentlich soll: eine große, aber keineswegs unbedingt großartige Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, die nicht sein muss.

Der Glitzervorhang und einige mal glänzende, mal historisch anmutende, aber optisch sehr ansprechende Kostüme, die authentische Farbe auf die Bühne bringen, geben der Theatervorstellung auch den nötigen Glanz und Glitter, bieten eine Wohltat fürs Auge, noch dazu schön farblich abgeschmeckt.

Natürlich bringt die Inszenierung aber auch sehr ernste Aspekte der heutigen Welt auf die Bühne: Berenice (alias die historisch überlieferte ägyptische Königin Kleopatra Berenike III.) wird von einem anderen Staat – im Libretto vom Alten Rom, das historisch gesehen auf die Getreidelieferungen aus Ägypten scharf, wenn nicht gar angewiesen war – bzw. seinen entsprechenden Statthaltern per Twitterpost erpresst, entweder den Rom genehmen Alessandro zu ehelichen oder aber man werde ihr „Ländchen“ mit Krieg überziehen. Auch der NSA-Skandal wird aufgegriffen: ein verräterisches Schreiben, in dem sich ein Gegner Roms, aber ebenfalls an Ägypten interessierter Staatsführer (der König von Pontus) anerbietet, dem zweiten, von ihm begünstigten Kandidaten um die Gunst und Hand Berenikes – Demetrio – zu helfen, taucht hier als E-Mail auf und wird wie der Brief im Libretto von Berenike-Getreuen abgefangen.

Händel hatte seine „Berenice“ für die Saison 1736/37 am königlichen Theater Covent Garden geschrieben. Sie wurde allgemein nicht als Händels beste Oper wahrgenommen, aber seit der mustergültigen Einspielung durch das Complesso Barocco mit einem erstklassigem Cast bei Virgin 2010 wissen wir, was für schöne Nummern Berenice enthält. Dass „Berenice“ unverdient so abgewertet wurde, hatte auch der Händelforscher Winton Dean schon erkannt, der schreibt:

„Die Schwächen der Berenice sind dramatischer, nicht musikalischer Art. Es gibt kein wahrnehmbares Nachlassen [von Händels] Erfindungsreichtum: Fast jeder Arie, selbst auf Nebenschauplätzen, hat subtile musikalische Wendungen oder feine strukturelle Details. Bei Burney, der die Dramatik und Charakterisierung [im Allgemeinen] nicht so interessant fand, rangiert [Berenice] weit oben und er widmete ihr [in seiner Allgemeinen Musikgeschichte, 1789] mehrere Seiten zur Beschreibung der Partitur.“ (Winton Dean: Handel’s Operas, 1726–1741. Boydell & Brewer, London 2006, Reprint: The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-268-3, S. 383; deutsche Übersetzung übernommen vom deutschen Wikipedia-Eintrag)

In Halle werden die beiden männlichen Bewerber um Berenices Gunst von zwei erstklassigen Countertenören gesungen. Der Eine – Filippo Mineccia, Demetrio verkörpernd – ist in Halle schon mehrfach aufgetreten und ausgiebig verdient beklatscht worden, zuletzt als Titelfigur des Lucio Silla in Händels gleichnamiger Oper (Produktion der Oper Halle für die Händelfestspiele 2016, Wiederaufnahme 2017). Lucio Silla übrigens wäre sogar der historisch gesehen hinter den römischen Interessen stehenden Statthalter und Imperator Roms zu Zeiten der Berenice, insofern gibt es sogar einen historischen Bezug zwischen den beiden Besetzungen. Der Andere ist eine der Entdeckungen des diesjährigen Händelfestivals. Den von den Römern begünstigten Alessandro verkörpert der aus Venezuela stammende und dort ausgebildete Countertenor Samuel Mariño, der mit einem glasklaren, reinen, völlig unangestrengten und zudem völlig natürlichen Sopran mühelos in Höhen vordringt, bei denen andere Counter und auch Sopranistinnen anfangen (müssen) zu pressen. Der Rezensent würde mal die These wagen, dass auch Mariño noch ganz groß rauskommen wird – und somit die Halleschen Festspiele wieder mal, wie z. B. 2009 bei der Premiere des mit Puppen auf der Bühne grandios inszenierten „Rinaldos“ der Lautten Compagney den noch studierenden Valer Barna-Sabadus, der bei den Händelfestspielen 2019 wieder in Leipzig auftreten wird, einen Künstler präsentieren und entdecken mit ganz großem Potential.

Die Titelheldin wird verkörpert von der Lokalmatadorin Kammersängerin Romelia Lichtenstein, die in dieser Rolle nicht nur aufgeht, sondern absolut in ihrer Komfortzone singt und somit an ihre Höchstleistungen von vor einigen Jahren würdig anschließt.
Wie schon oben angedeutet, verdient auch ein anderes Detail besondere Erwähnung: Franziska Gottwald, in ganz Europa gefeierte Mezzosopranistin und vielerorts die männlichen Hauptrollen verkörpernd wurde für die in der Oper kleine Nebenrolle des Arsace für die Hallesche Produktion gewonnen und gibt dieser Rolle eine wahrscheinlich nie beabsichtigte Präsenz, auch wenn sie – zeitweise – im wenig hermachenden Kostüm einer Putze, wenn nicht Klofrau daherkommt.

Also: Glückwunsch an die Bühnen Halle für diese überzeugende und rundum zufriedenstellende Produktion

Die diesjährige Festivaloper "Berenice" auf der Homepage der Oper Halle:

Dirk Carius


Das Ensemblebild (ganz links die beiden Countertenöre Filippo Mineccia und Samuel Mariño, ganz rechts Berenikes Schwester Selene und Berenice alias Svitlana Slyvia und Romelia Lichtenstein) gibt einen guten Eindruck vom Revuecharakter und dem Unterhaltungsgrad der diesjährigen Festivaloper.


Demetrio (Filippo Mineccia) kann sich nicht ganz entscheiden, ob er lieber Berenice oder ihre Schwester heiraten solle. Er richtet die Fahne nach dem Wind, will abwarten, welche von beiden von Rom als Königin akzeptiert wird.


Die Entdeckung des Abends und einer der Neuentdeckungen der diesjährigen Händelfestspiele - Counter Samuel Mariño als Alessandro



So posen sie zu unterschiedlichen Zeiten alle vor der Kamera auf der Bühne und das Bild erscheint gleichzeitig groß auf der Leinwand: hier Halles Robert Sellier und Romelia Lichtenstein

Bilder: Theater, Oper und Orchester GmbH Halle

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen